Die Anamnese als Teil eines ganzheitlicheren* Ansatzes

 
 

„Das echte Gespräch startet mit Neugierde. Und zwar nicht darauf, was ich dokumentieren will,
sondern Neugierde auf den Menschen. Es geht um das Wachhalten der Überraschungsfähigkeit
so hat es Sigmund Freud genannt. Ein Gespräch ist das Zulassen einer echten Begegnung.
Und das heißt eben, das Regelartige hinter sich zu lassen, die Typisierung, das Schubladendenken zu vermeiden.“

(Prof. Dr. Giovanni Maio in einem Interview mit Annette Bopp)

Anamnese (griech. anámnēsis = Erinnerung) wird von Neurath et al. (2006) als Befragung bzw. Gespräch mit der*dem Patient*in definiert. Im Fokus stehen dabei Beziehungsaufbau, Informationsgewinn und Besprechen des weiteren Vorgehens. Böker (2003) weist darauf hin, dass der vorherrschende Fokus auf den Informationsgewinn in der Medizin, in Form immer detailreicherer Daten, zu einer fragmentierten Sichtweise des Menschen und zu einer Verdrängung der therapeutischen Beziehungskomponente führt. Auch der Medizinethiker Prof. Dr. Giovanni Maio betont in einem Interview die Relevanz der Kommunikation für den Behandlungserfolg, in dem Zeit und Zwischenmenschlichkeit die Basis sind (Bopp 2019). Bekannt sind diese Ideen u. a. von Balint (1964), Antonovsky (1997, S. 33-47), Petzold (2005) und aus der Placeboforschung (Benedetti 2002; Di Blasi et al.2001).Eine Befragung von Bestmann et Verheyen (2010) zeigt, dass die Kommunikationeine der wichtigsten Determinanten für die Zufriedenheit von Patient*innen darstellt und gerade dort Defizite zu identifizieren sind. Die durchschnittliche Konsultationszeit in deutschen Hausarztpraxen beträgt sieben Minuten,unterbrochen wird meist nach elf bis vierundzwanzig Sekunden (Irving et al. 2017; Wilm et al. 2004). Ursachen für diesen Missstand sehen Kickbusch et Hartung (2014) und Erhard (2011) u. a. in der mangelnden Ausbildung kommunikativer Kompetenzen.

Die osteopathische Arbeit ermöglicht eine multiodale Herangehensweise, welche zunächst in der Anamnese, dem Gespräch, verschiedene Facetten der*des Patient*in identifizieren kann. Der Anspruch einen ganzheitlicheren Ansatz zu verfolgen erfordert die Umsetzung dieser Theorie auf allen Ebenen der Therapeut*innen-Patient*innen-Interaktionen, auch in der Anamnese.

Das oben genannte Zitat von Prof. Dr. Maio erinnert mich in meiner osteopathsichen Tätigkeit stetig daran offen und neugierig zu sein, dem Menschen mit all seinen Facetten zu begegnen und meine Behandlung darauf abzustimmen.

*Anmerkung zu dem Begriff „ganzheitlicher“: im Sinne eines lebenslangen Lernprozesses wiederstrebt es mir einen Begriff zu verwenden, welcher einen Ist-Zustand ausdrückt. Mit dem Begriff „ganzheitlicher“ wird ein Ziel definiert, erkannt, dass eine einzelne Person nicht in der Lage ist die Gesamtheit als solches zu erfassen (vgl. Parabel von den Blinden Männern und dem Elefanten) und gleichzeitig die stetige Bereitschaft zu Lernen formuliert.

Literatur:

Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. 1. Aufl. Tübingen: dgvt-Verlag.

Balint, M. (1964). Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. 11. Aufl. London: Pitman Medical Publishing Co. Ltd.

Benedetti, F. (2002). How the doctor’s words affect the patient’s brain. Evaluation & the health professions 25 (4), 369–386.

Bestmann, B., Verheyen, F. (2010). Patientenzufriedenheit. Ergebnisse einer repräsentativen Studie in der ambulanten ärztlichen Versorgung. WINEG Wissen 01. Hamburg: Techniker Krankenkasse.

Böker, W. (2003). Der fragmentierte Patient. Arzt-Patienten-Beziehung. Deutsches Ärzteblatt 100 (1-2), 24–27.

Bopp, A. (2019). Wir brauchen unterschiedliche Zugänge zum kranken Menschen.Ein Gespräch mit dem Medizinethiker Prof. Dr. Giovanni Maio über die Fehlentwicklung in der heutigen Medizin. Gesundheit Aktiv 13/14 (Frühjahr 2019), 14–23.

Erhard, D. (2011). Ärztliche Gesprächsführung: So gelingt sie. Lege artis 1 (1), 14–18.

Irving, G., Neves, A. L., Dambha-Miller, H., Oishi, A., Tagashira, H., Verho, A., Holden, J. (2017). International variations in primary care physician consultation time: a systematic review of 67 countries. BMJ open 7 (10), 1-15.

Kickbusch, I., Hartung, S. (2014). Die Gesundheitsgesellschaft. Konzept für eine gesundheitsförderliche Politik. 2. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber.

Di Blasi, Z., Harkness, E., Ernst, E., Georgiou, A., Kleijnen, J. (2001). Influence of context effects on health outcomes: a systematic review. The Lancet 357 (9258), 757–762.

Neurath, M., Lohse, A., Akat, K. (2006). Checkliste Anamnese und klinische Untersuchung: 173 Tabellen, Checklisten der aktuellen Medizin, 2. Aufl.,Stuttgart: Thieme.

Petzold, T. D. (2005). Die ärztliche Gesprächsführung im Sinne einer salutogenen Kommunikation. Erfahrungsheilkunde 54 (04), 230–241.

Wilm, S., Jnauf, A., Peters, T., Bahrs, O. (2004). Wann unterbricht der Hausarzt seine Patienten zu Beginn der Konsultation? Zeitschrift für Allgemeinmedizin 80 (2), 53–57.

Fotografie:

Rebecca Thoma

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